Türken entscheiden in Stichwahl über ihren Präsidenten in kommenden fünf Jahren
Weiter mit dem Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan oder ein Neuanfang mit Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu? In der ersten Stichwahl in der Geschichte der Türkei haben die Bürgerinnen und Bürger am Sonntag über ihren Präsidenten in den kommenden fünf Jahren abgestimmt. Erdogan gilt als Favorit. Kilicdaroglu rief die Wähler auf, dessen nunmehr 20-jährige "autoritäre" Herrschaft zu beenden. Der Wahlausgang in dem Nato-Staat wird auch im Ausland mit großer Spannung erwartet.
Anders als von Umfragen vorhergesagt hatte Erdogan in der ersten Wahlrunde vor zwei Wochen knapp fünf Prozentpunkte vor Kilicdaroglu gelegen. Der islamisch-konservative Staatschef verfehlte allerdings knapp die absolute Mehrheit. Umfragen vor der ersten Wahlrunde hatten den sozialdemokratischen Oppositionschef vorn gesehen.
Am Tag der Stichwahl appellierte Kilicdaroglu nochmals an die Wählerinnen und Wähler, durch eine Abkehr von Erdogan die türkische Demokratie wieder zu stärken. "Damit echte Demokratie und Freiheit hier Einzug halten, damit wir uns von einer autoritären Regierung befreien, rufe ich die Bürger zur Wahl auf", sagte der Oppositionsführer bei seiner Stimmabgabe in Ankara.
Der 74-jährige Chef der sozialdemokratischen und säkularen CHP mahnte außerdem, die Urnen auch nach der Schließung der Wahllokale gut im Auge zu behalten. Schließlich sei die Präsidentschaftswahl "unter schwierigen Bedingungen abgehalten" worden. Bei der Stichwahl waren die Wahlbeobachter der Opposition deutlich präsenter als bei der ersten Runde.
Nach der ersten Wahlrunde waren keine größeren Unregelmäßigkeiten gemeldet worden. Vielfach kritisierten Opposition und ausländische Beobachter aber einen unfairen Wahlkampf, da sich die türkischen Medien überwiegend fest in der Hand des Regierungslagers befinden und die Opposition deutlich weniger Sendezeit erhielt.
Erdogan gab seine Stimme mit seiner Frau Emine in einem Wahllokal im Istanbuler Stadtteil Üsküdar ab. Dabei rief er zu reger Wahlbeteiligung auf. An der ersten Runde am 14. Mai hatten 87 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen.
Erdogan lenkt seit 20 Jahren die Geschicke der Türkei. Im Fall seiner erneuten Wahl für eine fünfjährige Amtszeit wird allgemein erwartet, dass der 69-Jährige seine Macht zementiert und seinen autoritären Kurs weiter verschärft. Zu den bestimmenden Wahlkampfthemen hatten die hohe Inflation im Land und der Wiederaufbau nach dem schweren Erdbeben im Süden der Türkei gehört.
Es sei ihm "wichtig zu bewahren, was in der Türkei in den vergangenen 20 Jahren errungen wurde", begründete in Ankara der Firmenchef Mehmet Emin Ayaz seine Stimme für Erdogan. Die 61-jährige Rentnerin Aysen Gunday sagte, diese Wahl sei "ein Referendum" und sie habe für Kilicdaroglu gestimmt.
Nach dem unerwartet starken Abschneiden Erdogans im ersten Wahlgang schwanken Kilicdaroglus Anhänger allerdings zwischen letzter Hoffnung und Resignation. "Wir sind weniger motiviert", sagte etwa der 45-jährige Schweißer Bayram Ali Yüce.
Um zusätzliche Wähler zu gewinnen, wandte sich Kilicdaroglu nach der ersten Wahlrunde gezielt rechtsgerichteten Nationalisten zu, die vor zwei Wochen bei der parallel abgehaltenen Parlamentswahl die großen Gewinner waren. Er kündigte an, alle Flüchtlinge auszuweisen und den Terrorismus zu bekämpfen.
Erdogan wird vor allem von der ärmeren Bevölkerung und den Bewohnern ländlicher Gebiete unterstützt, weil er die Ausübung des muslimischen Glaubens fördert und heruntergekommene Städte in Anatolien modernisiert hat.
Die Wahl in der Türkei wird auch in der EU und anderen Ländern wegen ihrer Rolle als Nato-Partner, als Gastland von Millionen Flüchtlingen und als einflussreicher Akteur im Nahen Osten mit Spannung verfolgt. Während sein Verhältnis zu den USA und der EU mittlerweile von Spannungen gekennzeichnet ist, hat Erdogans Verhältnis zu Kreml-Chef Wladimir Putin unter dem Ukraine-Krieg nicht gelitten.
Die in Deutschland lebenden Türken konnten bis Mittwoch ihre Stimme abgeben. In der Türkei sind rund 60 Millionen Bürgerinnen und Bürger stimmberechtigt. Die Wahllokale schließen um 17.00 Uhr Ortszeit (16.00 Uhr MESZ). Erste Ergebnisse werden für den frühen Abend erwartet.
M.Romero--PV